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Insektensterben – Unbeachteter Schwund

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Früher waren die Windschutzscheiben im Sommer voller toter Insekten, heute kaum noch.

JÄGER-Redakteurin Dr. Nina Krüger hat sich mit der Frage beschäftigt, wo die lebenswichtige tierische Äsung unserer Hühnerküken geblieben ist. 

Als ich noch klein war, verbrachten mein Bruder und ich jeden Sommer bei meinen Großeltern in Kassel. Jedes Jahr, am ersten Tag der Sommerferien, kam unser Großvater nach Hamburg gefahren, um uns abzuholen. Und jedes Jahr verbrachten wir den zweiten Tag der Sommerferien da- mit, sein Auto zu waschen. Nach der für uns endlosen Fahrt waren Windschutzscheibe und Kühlergrill verkrustet mit toten Insekten. Wenn ich heute im Sommer selbst bis in die entlegensten Winkel Deutschlands fahre, bietet sich ein völlig anderes Bild – kaum Fliegen, Mücken und Schmetterlinge.

Buntspecht: Er fängt bevorzugt Heuschrecken. Sie ist eine der Arten, die vom Insektensterben besonders betroffen ist.

Buntspecht: Er fängt bevorzugt Heuschrecken. Sie ist eine der Arten, die vom Insektensterben besonders betroffen ist.

NEUE AUTOS RETTEN LEBEN 

Obwohl der Ökologe Josef Settler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle dies vor allem dem modernen Design von Autos zuschreibt, bei dem Insekten nicht mehr an der Fahrzeugkarosserie zerschmettert, sondern mit dem Luftstrom über das Auto geleitet werden, gibt er keine Entwarnung. Nicht nur Autofahrer, auch wir Jäger, Landwirte und Naturliebhaber haben es schon beobachtet: Jedes Jahr scheint es weniger Insekten zu geben. Tatsächlich warnen Forscher, dass es gerade zu einem Massensterben kommt, dass kaum Beachtung findet.

IMMER WENIGER INSEKTEN 

Insektizide werden eigentlich nicht gegen Nützlinge wie die Honigbiene eingesetzt, trotzdem leiden sie unter dem Einsatz.

Insektizide werden eigentlich nicht gegen Nützlinge wie die Honigbiene eingesetzt, trotzdem leiden sie unter dem Einsatz.

Dies ist besonders dramatisch, da Insekten vielen Wildtieren als Nahrung dienen. Besonders die Arten, die weithin wenig Beachtung finden und nur selten konventionelle Naturschützer zu groß angelegten Kampagnen veranlassen, leiden darunter. Zahlreiche Amphibien- und Vogelarten sind selbst oder bei der Aufzucht ihrer Jungen auf die Krabbeltiere angewiesen und bilden in der natürlichen Nahrungs- kette ein wichtiges Bindeglied, das es zu erhalten gilt, wenn einem ein natürliches Wildgefüge am Herzen liegt.

Ein Beispiel hierfür ist die Situation des Rebhuhns, dessen Besatz in den vergangenen Jahren um gebietsweise 90 Prozent zurückgegangen ist. Der Insektenschwund führt dazu, dass frischgeschlüpfte Rebhuhnküken in vielen Gebieten mehr Energie für die Suche von Äsung aufwenden müssen, als sie durch die noch vorhandenen Insekten decken könnten. Ihre Überlebenschancen sinken dadurch erheblich.

Diese Rebhühner sind aus dem Gröbsten raus, in ihren ersten Lebenstagen haben sie genügend Insekten gefunden. Leider keine Selbstverständlichkeit.

Diese Rebhühner sind aus dem Gröbsten raus, in ihren ersten Lebenstagen haben sie genügend Insekten gefunden. Leider keine Selbstverständlichkeit.

SPEZIALISTEN VERLIEREN 

Nicht nur die Anzahl der Insektenarten, sondern auch die der Individuen hat in den vergangenen Jahren teils drastisch abgenommen. Erhebungen zum Vorkommen und der Verteilung von Insekten haben beispielsweise ergeben, dass seit 1989 in Nordrhein-Westfalen 22 Prozent der Schmetterlingsarten verschwunden sind und die verbleibenden kleinere Populationsgrößen zu beklagen haben. Vor allem seit der Jahrtausendwende sei der Artenrückgang schneller fortgeschritten, so die Forscher.

Thomas Schmitt, Entomologe des Senckenberg Instituts Müncheberg, beobachtet einen starken Rückgang der spezialisierten Arten, während Generalisten, also Arten, die eine breite ökologische Nische besetzen, weniger betroffen sind. Auch die großen Insekten wie der Eichenwaldbock, der echte Hirschkäfer, der Balkenschröter oder der Feldgrashüpfer seien in Relation stärker zurückgegangen als die kleinen, so Schmitt weiter. Warum das so sei, ist derzeit noch unklar, denn es scheinen viele Faktoren zusammenzukommen, unter anderem auch genetische.

Viele Amphibien sind auf Insekten angewiesen, Salamanderlarven zum Beispiel auf Mückenlarven.

Viele Amphibien sind auf Insekten angewiesen, Salamanderlarven zum Beispiel auf Mückenlarven.

Die Forschung an Insekten ist ein undankbares Geschäft. Der Artenschutz konzentriert sich vor allem auf prestigeträchtige Arten, hauptsächlich Säugetiere und einige Vögel, von denen einige gar keinen gesonderten Schutz mehr nötig hätten. Insekten hingegen würden stiefmütterlich behandelt, klagt Schmitt. Dass auch Gewässerinsekten betroffen seien, liege an dem Verlust von Kleinstrukturen und der toxischen Wirkung von Pestiziden, die auf Feldern gespritzt würden und auch in den Gewässern landen.

UND DER KLIMAWANDEL? 

Der Klimawandel spielt nur eine untergeordnete Rolle für den Verlust der Artenvielfalt bei Insekten, da durch die veränderten Bedingungen neue Arten einen Lebensraum bei uns finden. In südlicheren Ländern sei aber von erheblichen Verlusten auszugehen. 328 Vogelarten leben in Deutschland, sagt der Agrarökologe Teja Tscharntke von der Universität Göttingen, und 104 Säugetierarten – aber rund 33.000 Insektenarten, von denen nicht einmal alle beschrieben sind.

 

Viele Insektenarten sind in den letzten Jahrzehnten verschwunden, in Nordrhein-Westfalen etwa in nur 25 Jahren von den Schmetterlingsarten 22 %

INSEKTIZIDE SCHULD? 

Für den Insektenschwund der vergangenen Jahre könnten Neonicotinoide, eine Gruppe von Insektiziden, eine Rolle spielen. Aktuell gilt in der Europäischen Union ein Moratorium (Aussetzung) für Neonicotinoide, die in der Landwirtschaft unter anderem als Beizmittel genutzt werden. Bei Neonicotinoiden handelt es sich um synthetisch, also künstlich hergestellte Fraß- und Kontaktgifte, die eine Weiterleitung von Nervenreizen verhindern, in dem sie an spezifische Rezeptoren binden. Dadurch kommt es zu einem Dauerreiz, der zu Krämpfen und schließlich zum Tod der Schädlinge führt. Die Wirkung von Neonicotinoiden auf das Nervensystem von Insekten ist weit stärker als auf die Nerven von Wirbeltieren. Daher wirken sie selektiv auf wirbellose Tiere und sollen für Vögel und Säugetiere, einschließlich dem Menschen, keine Gefahr darstellen.

Der Gemeine Grashüpfer ist eine der häufigsten Heuschreckenarten, auch er ist vom Insektensterben betroffen.

Der Gemeine Grashüpfer ist eine der häufigsten Heuschreckenarten, auch er ist vom Insektensterben betroffen.

Neonicotinoide werden in Pflanzen nur langsam abgebaut. Sie können über die Wurzeln aufgenommen und bis in die Blätter, Blüten und Pollen transportiert werden. Dadurch bieten sie Schutz vor Fraß- und Saugschäden. In Wein- und Zitruspflanzen hält die Wirkung mehrere Monate vor, Bäume können durch eine Injektion sogar mehrere Jahre geschützt werden. Wissenschaftler monieren allerdings, dass die Pflanzenschutzmittel nicht nur die Schädlinge treffen, sondern auch Nützlinge wie Bienen. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit stellte fest, dass mindestens drei Neonicotinoide – Clothianidin, Imidacloprid sowie Thiamethoxam – eine Gefahr für Bienen darstellen können.

 

Blühstreifen und Wildäcker bieten Insekten Nahrung und Lebensraum.

Blühstreifen und Wildäcker bieten Insekten Nahrung und Lebensraum.

AUSGERÄUMTE LANDSCHAFT 

Pestizide sind aber nicht die einzigen Probleme, mit denen es Insekten heutzutage zu tun haben. Denn in ausgeräumten Kulturlandschaften haben Insekten wenig Alternativen, als sich auf Nutzpflanzen zu konzentrieren. Auch Überdüngung ist ein Problem, sagt Tscharntke. Gerade der Verlust kleinräumiger Strukturen mit abwechslungsreichem Bewuchs habe einen Einfluss auf die Population von Bestäuber, die schließlich wieder einen erheblichen Einfluss auf Wild- und Nutzpflanzen sowie auf die Nahrungsmittelproduktion haben. Denn ein Verlust des Artenreichtums bei Insekten bedeutet schließlich auch einen Verlust für die Arten, die auf sie angewiesen sind – auf beiden Seiten der Nahrungskette.

Die Stickstoff-Anreicherung in den Böden durch Überdüngung verschlimmert das Ganze nur noch, denn sie lässt die Pflanzenwelt weiter verarmen. Schnellwüchsige Pflanzen wie Gräser lassen keinen Platz mehr für Kräuter und Blühpflanzen, von denen sich viele Insekten ernähren können.

WAS WÄRE ZU TUN? 

Die Lösung für den Artenschutz bei Insekten findet sich in den gleichen Maßnahmen, die wir auch für andere Wildtiere ergreifen. Denn der Erhalt von abwechslungsreichen Strukturen, das Pflanzen von Randstreifen, Hecken, Wildäckern oder Bienenweiden bietet auch Insekten Nahrung und Lebensraum, wenn sie nicht durch Spritzmittel beeinflusst werden. Die Erforschung von Insekten und alternativen Pflanzenschutzmethoden wäre zum Erhalt der Biodiversität ebenfalls sinnvoller, als mit der Neubestückung der Nahrungskette von oben zu beginnen. Auch Häuser baut man schließlich vom Fundament an, nicht vom Dach.

Der Beitrag Insektensterben – Unbeachteter Schwund erschien zuerst auf Jäger.


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